Interview als Teilinstrument der Bestandsaufnahme

Elisa Ricci

Entstehungsprozess und methodologische Grundlage

Das Interview und die Methoden der Auswertung wurden von der Tanzwissenschaftlerin und Kuratorin Elisa Ricci entwickelt. Der Leitfaden wurde in einem intensiven dialogischen Prozess im erweiterten Team mit Fokus auf Zugänglichkeit, Diskriminierungskritik, so wie machtkritischen Perspektiven entwickelt. Thematische Schwerpunkte des Leitfadens sind 1) Potentiale und Schwächen der Tanzvermittlung; 2) Formen bestehender struktureller Diskriminierung 3) Visionen für ein “Tanzvermittlungszentrum” in Berlin. Während des Labs am 26.2.2021 (siehe oben) wurden diese Inhalte mit den Interviewpartner*innen weiterhin vertiefend diskutiert.

Interviewpartner*innen

Das Interview richtet sich spezifisch an Expert*innen der (Tanz)Vermittlung.

Die Interviewpartner*innen sind: An Boekman, Angela Alves, Athina Lange, Be van Vark, Bahar Meric, Chang Nai Wen, Christoph Winkler, Diana Thielen, Esmir Srdanovic, Eva-Maria Hörster, Georgina Philipp, Jo Parkes, Joy. C. Alpuerto Ritter, Laura Werres, Lea Martini, Livia Patrizi, Maren Witte, Marie Yan, Martina Kessel, Medhat Aldaabal, Nora Amin, Rajyashree Ramesh, Robert Segner, Ron Rosenberg, Sophia Neises, Sven Seeger, Teo Vlad.

 

Die Expert*innen haben in verschiedenen Funktionen teilgenommen, u.a. als freischaffende Künstler*innen, Choreograf*innen und Pädagog*innen, Kurator*innen, Tanzwissenschaftler*innen, Schauspieler*innen und als Vertreter*innen von Institutionen (Marameo, Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz, Mobile Dance, Raumlaborberlin, Zeitgenössischer Tanz Berlin e.V., Chance Tanz, Theater Fratz, Maxim Gorki Theater, LAFT Berlin, TanzZeit)

 

Die Auswahl der Interviewpartner*innen wurde innerhalb eines Prozesses im erweiterten Team getroffen. Ziel des Prozesses war ein Gleichgewicht zwischen Institutionen des sogenannten „zeitgenössischen Tanzes“, Initiativen und Akteur*innen der Urbanen Tanzkulturen, Organisationen mit Schwerpunkt auf Tanz und Soziale Arbeit, sowie Vertreter*innen von Tanzrichtungen, die in den Institutionen des „zeitgenössischen Tanzes“ nicht vertreten sind (Raqs Sharki, Baladi Dance, verschiedene Arten des Indischen Tanzes u.a.) herzustellen.

Methodik der Auswertung

Die Auswertung basiert auf einem transversalen, kollektiven Prozess des Lesens im Team (Steuerungsgruppe und Elisa Ricci) sowie auf einer Codierung nach qualitativer Auswertung adaptiert für die Tanzwissenschaft (Elisa Ricci).

Die in der Auswertung dargestellten Ideen und Vorschläge sind insofern geteiltes Wissen, da sie einem partizipativen Prozess entstammen, an dem die Steuerungsgruppe, das erweiterte Team und die Interviewpartner*innen teilgenommen haben.

Auswertung nach Themenschwerpunkten

1) STATUS QUO: Schwächen und Potentiale

Tanzvermittlung wird als leitende Kraft einer strukturellen Veränderung im Sinne der Diskriminierungskritik wahrgenommen, die insgesamt im Bereich des Tanzes und in der Kunstwelt sich ankündigt und teilweise schon stattfindet.

Exzellente Angebote der Tanzvermittlung sind in Berlin präsent. Es bestehen jedoch Lücken, die gefördert und aufgehoben werden müssen: unter anderem, Angebote für Menschen mit Behinderung, für Erwachsene und ältere Personen. Auf professioneller Ebene muss der Austausch zwischen Tanzvermittler*innen mit und ohne Behinderung ausgebaut und gefördert werden, so wie die Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten für Tanzvermittler*innen mit und ohne Behinderung.

Auf der Ebene der finanziellen Ausstattung, wird insgesamt eine mangelnde Kontinuität festgestellt, sowohl für Bereiche die schon exzellente Modelle zeigen, als auch für die auszubauenden Bereiche. Es ist unverzichtbar für die Weiterentwicklung der Tanzvermittlung, die ja auch ein Potential für gesellschaftliche Veränderung innehat, langfristig ausgerichtete Förderungen zu gewährleisten und somit die Möglichkeit über Jahre hinaus Projekte zu begleiten: nicht nur wie viele Teilnehmer*innen, sondern auch und vor allem wie lange sie durch Projekte mitgenommen werden können spielt eine zentrale Rolle, wenn es darum geht Zugang zu Bildung und Kultur zu gewährleisten.

Auch für freiberufliche Akteur*innen spielen prekäre Arbeitsbedingungen aufgrund von Arbeiten auf Projektbasis eine Rolle. Es wird desgleichen eine ungerechte Verteilung von Ressourcen angesprochen, insbesondere zwischen großen und kleinen Institutionen.

Fragmentierung wird teilweise als Stärke im Sinne von Heterogenität, teilweise jedoch als schwächende Kraft wahrgenommen. Fragmentierung scheint als schwächend wahrgenommen zu werden, wo sie in hierarchische Aufteilungen zwischen Bereichen verfällt: Beispielsweise die als hierarchisch wahrgenommene Kluft zwischen den Institutionen des „zeitgenössischen Tanzes“ und den im Tanzbereich tätigen Initiativen der Sozialen Arbeit; das Gleiche gilt für die als hierarchisch wahrgenommene Unterscheidung zwischen künstlerischem Schaffen und tanz- und theaterpädagogischen Projekten, so wie zwischen akademischen Tanzinstitutionen und autodidaktisch ausgebildeten Tänzer*innen und Tanzvermittler*innen.

Mit Fragmentierung und mangelnder Koordinierung geht eine niedrige Sichtbarkeit der Tanzvermittlung einher, beispielsweise im Vergleich mit Vermittlungsangeboten im Bereich der bildenden Kunst und des Sprechtheaters. Zu der mangelnden Sichtbarkeit trägt auch die Unregelmäßigkeit von kostenlosen, barrierefreien Angeboten im öffentlichen Raum bei, die gefördert werden sollten. Der Ausbau von kostenfreien Angeboten im öffentlichen Raum besitzt das Potential gerechter Zugänge für alle Interessierten.

Strukturelle Diskriminierung zeigt sich auch im Bereich der Tanzvermittlung. Tanzformen die als nicht-künstlerisch etikettiert sind, bleiben außen vor: u.a. Kreistänze, Urbaner Tanz, als traditionell bezeichnete Tänze (im Gegensatz zum „zeitgenössischen Tanz“). Eine Erweiterung des Tanz- und Kunst-Begriffes wird als dringend notwendig wahrgenommen.

Die Repräsentation von strukturell diskriminierten Perspektiven fehlt auf Leitungsebene. So werden zum Beispiel Leitungspositionen auch in inklusiven Formaten von nicht behinderten Personen besetzt. Dies betrifft eindeutig auch weitere Formen der Marginalisierung aufgrund von rassistischer und sexistischer Diskriminierung. Die Klassenfrage unterwandert und erweitert die genannten Formen der Diskriminierung, sowohl auf der Ebene der Zugänge zu professionalisierenden Angeboten als auch auf der Ebene der Rezeption.

 

2) VISIONEN: Veränderung / Strategien

Das Aufheben der bestehenden Fragmentierung zeigt sich insgesamt sehr deutlich als Veränderungswunsch.

Partnerschaften werden wiederholt als geeignete Strategie zur Aufhebung des fragmentarischen Status Quo dargestellt: Partnerschaften über nationale Grenzen hinaus; mit Einrichtungen jenseits des Tanzes (z.B. Imkerverein, Urban Gardening); Partnerschaften zwischen Einrichtungen im sozialen, kulturellen Bereich und im Bereich der Bildung; Partnerschaften mit Einrichtungen für ältere Personen, Mutter – Kind Zentren; Physiotherapeutische Praxen; Einrichtungen für Geflüchtete, Trauma-Therapeutische Einrichtungen.

Die Möglichkeiten an Partnerschaften langfristig zu arbeiten ist als Privileg zu betrachten: das können kleine Initiativen nicht langfristig leisten. Partnerschaften sollten auch auf der Grundlage von Bedürfnissen aller Beteiligten immer wieder neu verhandelt werden.

Konkrete Gesamt-Visionen für ein mögliches zukünftiges „Tanzvermittlungszentrum“ weisen einen Wunsch nach dezentralen Handlungsformen auf und werden beispielsweise wie folgt formuliert: „das Zentrum als Ort_e des Zusammenkommens“; „(De)Center as not attached to one House (…) located in an area that is not well served by dance opportunities“ ; “De-Centralized Platform”; „Network not closed to specific teams”; „örtlich flexibler Bus, kombiniert mit einem stationären Büro und mehreren Orten wie, Proberaum, Studiobühne. Das mögliche zukünftige „Tanzvermittlungszentrum“ wird auch als konkreter Ort angesprochen, der eine Multiplizität oder Vielzahl von Perspektiven beinhaltet. Um die Multiplizität langfristig zu garantieren, könnten zum Beispiel Leitungsfunktionen und kuratorische Positionen regelmäßig wechseln; Multiplikator*innen der unterschiedlichsten Tanzszenen können ein repräsentatives, divers aufgestellten Programm für ein Publikum entwickeln.

Ein geteilter Wunsch nach Gerechtigkeit und Defragmentierung erscheint stark auf konzeptueller Ebene, mit der wiederholt betonten Notwendigkeit bestehende, eurozentrisch geprägte Definitionen und Kategorisierungen von Tanzformen zu entschärfen. Es geht darum den Begriff Tanz zu öffnen und zu dekolonisieren – Etiketten aufzuheben die historisch geprägt sind und hierarchisierend und diskriminierend wirken.

Eine intersektional gedachte Gerechtigkeit im Sinne von Inklusion und Diversity wird angestrebt. Konkrete Beispiele sind: Taube und hörende Künstler*innen begegnen sich auf Augenhöhe und es wird nicht als etwas besonderes empfunden, dass auch Taube tanzen können; Ein weiteres spezifisches Beispiel betrifft die Notwendigkeit den Begriff Tanz zu öffnen, so dass Tänze, die in Verbindung mit einer bestimmten Kultur gelesen werden (z.B. mit der arabischen Kultur), selbstverständlich als Tanz und als Kunst gelesen werden. Um dies zu erreichen sind komplexe Schritte und Prozesse konstant und langfristig zu fördern, jedoch sei hier an erster Stelle die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung der tanzvermittelnden Akteur*innen, in der eigenen Praxis in Bezug auf Reproduktionen von Stereotypen, eurozentrische Sichtweisen und Inhalte genannt. Diesbezüglich besteht der Wunsch kurz und langfristig ausgerichtete Aus- und Fortbildungen für Beteiligte im Bereich der Tanzvermittlung zum Abbau von Diskriminierungen, Stigmata und Barrieren. Weitere Strategien zur Überwindung von strukturellen Diskriminierungen und daraus entstehenden Formen der Marginalisierung zielen darauf ab, bestehende Angebote, Praktiken, Tanzformen, Ausdrucksformen etc. einerseits da wo sie stattfinden zu fördern, andererseits auch in den möglichen zukünftigen Räumen des „Tanzvermittlungszentrums“. In beiden Fällen scheint es von zentraler Bedeutung, dass involvierte Tanzvermittler*innen aus diesen Bereichen Entscheidungsmacht tragen, wenn sie mitwirken. Die Repräsentation von strukturell diskriminierten Akteur*innen auf Leitungsebene ist diesbezüglich entscheidend.

Ausblick

Die Teilnehmer*innen haben eine reichhaltige Fülle an Ansätzen, Kompetenzen und Ideen beigetragen, die hier nicht vollständig dargestellt werden können. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit diesem Material ist notwendig und wünschenswert, mit dem Ziel Visionen zu konkretisieren und herauszuarbeiten. Weiterführende Thementische mit Expert*innen aus der Gruppe der Interviewpartner*innen können durchgeführt werden, mit dem Ziel spezifische Maßnahmen oder Teilaspekte zu planen. Die Inhalte der Interviews, die hier auf Makroebene zusammengetragen werden, stellen die inhaltliche Grundlage für weitere Phasen und Themen des Konzeptionsprozesses dar. Von den Interviewpartner*innen vorangebrachte Vorschläge, so wie Visionen bezüglich einer produktiven Verbindung zwischen Forschung und Tanzvermittlung, wie auch spezifische Strategien zur Aufhebung von struktureller Diskriminierung, die hier nicht im Einzelnen angesprochen werden konnten, werden weiterhin in den Prozess mitgedacht.