Vermittlung hinterfragen: Zugänge zum Tanz schaffen. Ein Statement zur Tanzvermittlung aus migrantischer Perspektive

Nora Amin

Was kann Vermittlung innerhalb einer hierarchischen Weltsicht bedeuten? Unterscheidet sich Tanzvermittlung von anderen Vermittlungsformen?

Ein Beitrag von Nora Amin.

 

Als späte Migrantin in die deutsche Gesellschaft bleibt mir das Wort „Vermittlung“ oder „Mittlung“ ein Rätsel. Als Teil meiner sogenannten „Integration“ (die für mich ein weiteres Rätsel ist) versuche ich zu analysieren und zu verstehen, was „Vermittlung“ oder „Mittlung“ bedeutet, insbesondere in Bezug auf den Tanz. Ursprünglich wird das Wort in meiner Muttersprache, dem Arabischen, nie im Zusammenhang mit Kunst verwendet. „Wasata“ oder „Wisata“ wird hingegen häufig in Konfliktsituationen verwendet, in denen sich mindestens zwei Parteien nicht einigen können – bis eine dritte Partei hinzukommt und versucht, die Kluft des gegenseitigen Verstehens zu überbrücken und einen Konsens herzustellen. Während meiner Zeit in Ägypten, in den arabischen Regionen, im Nahen Osten und in Afrika habe ich das Wort mediation [engl.] immer mit starken Bezügen zu Konflikten erlebt. Es herrschte die Vorstellung von einer Art „mittleren Position“, von der Anwesenheit einer dritten Partei (in der Regel aus Europa oder den USA), die für die Lösung eines Konflikts sorgt. Die Vorstellung oder Formulierung eines politischen Konflikts war stets mit mediation verknüpft.
mediation bedeutete also die Existenz eines Konflikts. Und mit der Zeit haben wir (dort, am anderen Ende der Welt) verstanden, dass diese Position der Vermittlung in Wirklichkeit eine Position des Privilegs ist, die normalerweise dem Westen zugestanden wird. In Wirklichkeit gab es keine Mitte, denn Privilegien gehen einher mit Hierarchie, Ausbeutung und Diskriminierung. Die mittlere Position war in Wirklichkeit eine metaphorische Mitte, denn alle wussten, dass eine solche Position von Interessen und Allianzen geleitet sein würde. Prozesse der so genannten mediation waren Prozesse der Verhandlung, um die bestehenden Privilegien zu bewahren und sich vor der Zuspitzung eines Konflikts zu einer Krise zu schützen – einer Krise, die schließlich zu einer Neuordnung der Machtverhältnisse führen und damit eine Bedrohung für die bestehenden Interessen und Privilegien darstellen würde.

 

Diese sprachlichen und politischen Bezüge zum Begriff der Vermittlung verbinden sich für mich nun auf neue Weise mit dem Tanz. Ich frage mich an dieser Stelle, ob dieser Versuch der Begriffsannäherung gültig ist. Oder hat der Begriff Vermittlung und insbesondere der Begriff Tanzvermittlung hier in Deutschland nichts damit zu tun? Wie können wir trotzdem den Begriff schützen und uns von diesen Zusammenhängen distanzieren? Und kann die deutsche Sprache in ihrer gesellschaftspolitischen Dimension wirklich von diesen historischen und aktuellen Bedeutungszusammenhängen abgekoppelt werden? Als Migrantin und als Tanzpraktikerin, -wissenschaftlerin und -lehrerin komme ich nicht umhin, andere mir vertraute Sprachen in meine Interpretation der deutschen Terminologie im Tanzbereich mit einzubeziehen. Ich bin sicher, dass es vielen anderen kürzlich zugewanderten Menschen ähnlich geht. Die eigene Migration und die Diskurse um das postmigrantische Theater informieren uns darüber, dass wir uns permanent in einem Status der Verflechtung befinden, in einem Prozess des Wandels und der Transformation von sozialen Gefügen und Identitäten. Diese Verflechtungen, Transformationen und vielfältigen Denk- und Ausdruckssysteme können zu positiven Verschiebungen im Raum der Verständigung führen, zu einer neuen Vorstellung von Gesellschaft in Deutschland heranwachsen. Nichtsdestotrotz können diese positiven Verschiebungen und Zuwächse sehr wohl durch Macht und Hegemonie behindert werden, um Interessen und Autorität zu bewahren. Hier wäre „Vermittlung“ gefragt, um den Konflikt zwischen diesen neuen Kräften des Wandels und der bestehenden Macht und Autorität sowie den bestehenden Privilegien zu lösen.

 

Um meine Interpretation als Migrantin zu erweitern, stelle ich mir vor dass „Tanzvermittlung“, als ein neuer Begriff im kulturellen Feld in Deutschland, hervorgebracht wird um Verbindungen zu schaffen, Gespräche zu erleichtern und diese neuen Kräfte der Veränderung, der Verflechtung, der Verschiebung und De-Stabilisierung näher in den Fokus zu rücken. Und zwar als einen Beitrag zu einer erweiterten Vision dessen, was Tanz ist und wie der tanzende Körper „sein sollte“, wie er von vermeintlich zu erreichenden Attributen wie Schönheit, ability und „Normalität“ im Allgemeinen gesteuert wird.
Ist es hierfür wirklich erforderlich, dass sich die Tanzvermittlung in der Mitte befindet? Befindet sich jemals eine Person wirklich in der Mitte? Gibt es wirklich eine Mitte? Oder sprechen wir eher von einem Zentrum als von der Mitte? Was ist der Unterschied zwischen „Mittlung“ und „Zentrum“? Für mich ist die Mitte ein weiches und irreführendes Wort, das die Position der Mitte als Machtposition verdeckt. Die Frage die sich folgerichtig stellt, ist: Können Menschen, die durch die Besetzung des Zentrums bisher privilegiert waren, für die Dezentrierung verantwortlich sein? Oder ist es vielmehr die Aufgabe derjenigen, die marginalisiert, rassifiziert und diskriminiert wurden, die Dezentralisierung nun zu übernehmen, als eine natürliche Entwicklung ihrer Prozesse der Veränderung und Verflechtung hin zu einer gerechteren Welt?

 

Die derzeitige Situation der Tanzvermittlung ist im Umbruch. Wir denken nicht mehr nur über die Durchführung von Formaten nach, sondern hinterfragen die Vermittlung selbst, die Formate und den Tanz nun im Licht der kritischen Theorie, der feministischen Ansätze und der Diskurse um Dekolonisierung und Antirassismus. Wir überdenken unsere Positionen, Überzeugungen, Denksysteme, Bildungs- und Kulturpolitik. Es ist notwendig, Tanz in einem erweiterten Sinn und aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, und dem Kanon, dem etablierten Wissen und der Bildungsgeschichte des Tanzes durchaus zu widersprechen. Denn nur so können wir den gesellschaftspolitischen Veränderungen um uns herum und in uns selbst begegnen, und sicherstellen, dass unser Verständnis von Tanz nicht in Stagnation verfällt oder von Macht, Privilegien und Interessen instrumentalisiert wird. Tanzvermittlung kann ein Feld sein, in dem das Untergeordnete den Begriff der Mitte oder des Zentrums verwässert und eine Sphäre der Verflechtung einführt, die weder auf binären Systemen noch auf Spaltung und Hierarchie beruht. Tanzvermittlung kann also ein transitorisches Feld sein, das letztlich auf seine eigene Verwässerung abzielt. Das Ideal wäre eine Tanzcommunity, in der jede*r ohne Hilfe und ohne Vermittler*in präsent, teilhabend und sichtbar sein kann. Eine Tanzcommunity, in der Tanz ohne Diskriminierung, ohne Übersetzung, ohne einen zusätzlichen Arm, der den Tanz an die Peripherie drängt oder die Peripherie anzieht, geschaffen, aufgeführt, gelernt, praktiziert und rezipiert wird – gerade weil es kein Zentrum und keinen Rand gibt und der Fluss zwischen allen Tanzformen und allen Akteur*innen der Tanzcommunity gleichwertig ist. Wäre das nicht ein schöner Traum für unsere Gesellschaft als Ganzes? Und für den Tanz als Mikrokosmos dieser Gesellschaft, als ein Vorreiter und Katalysator?

 

Wie schön wäre es, unsere Denksysteme und unsere Vision von der Welt zu überdenken – wie wir die Welt und uns selbst wahrnehmen, welche Vorstellung von Menschlichkeit in dieser Gesellschaft herrschen, ob Menschlichkeit mit Privilegien oder Produktivität oder Weißsein zusammenhängt, wie Menschlichkeit hier praktiziert wird und wie sie im Tanz, in der Kommunikation und im allgemeinen pädagogischen System verkörpert und ausgelebt wird. Welchen Platz haben Menschlichkeit und Heilung in unserer zukünftigen Vision von Miteinander Sein? Wer produziert, wer repräsentiert und wer kommuniziert Wissen, und insbesondere Tanzwissen und Wissen über Vermittlung? Eine Untersuchung des Wissenstransfers im Tanz würde damit beginnen, das Wissen selbst im Großen (was nehmen wir als Wissen wahr und was nicht?) sowie die Systeme seines Transfers zu hinterfragen. Wenn wir eine solche Untersuchung und Hinterfragung ernsthaft betreiben wollen, sollten wir wissen, dass es keinen Weg gibt, die Auseinandersetzung mit der Geschichte von Kolonialismus, Rassismus und Patriarchat zu umgehen, denn es wäre zu unschuldig, sich vorzustellen, dass das Tanzwissen davon nicht betroffen ist – es wäre zu unschuldig, sich vorzustellen, dass im Tanzfeld keine Konflikte herrschen und dass Tanzvermittlung schlicht ein reibungsloser und harmonischer Prozess der Erweiterung von Tanz ist.

 

Von Google Translate (meiner Assistenz für Barrierefreiheit) erhielt ich das folgende verwandte Wort, als ich „mediation“ eingab:

  • Intervention in a dispute in order to resolve it
  • Conciliation
  • Arbitration (was, wie ich in den USA mit meinem Diplom in Kulturmanagement gelernt habe, mit Verhandlungsgeschick zu tun hat)
  • Intervention
  • Interference
  • Intercession
  • Negotiation
  • Obtrusion
  • Intrusion

Und nachdem ich mit dem Wort gespielt und zwischen Englisch, Französisch, Deutsch und Arabisch hin- und hergesprungen bin, habe ich Folgendes herausgefunden:
Repair Reform Rehabilitation Remedy.

 

Ich wäre sehr daran interessiert, meine Google-Suche mit konkreten Fragen an uns alle fortzusetzen, damit wir unser Verständnis des Begriffs sowie der Praxis der Vermittlung miteinander teilen können. Vielleicht als einen Weg um die Bedeutung zu erweitern, sie zu aktualisieren und hoffentlich vom sprachlichen, politischen und kolonialen Erbe loszulösen, das mit Krieg, Landbesetzung und verdeckter Kolonisierung verbunden ist.

 

Einige einfache Fragen, die wir mit in die Zukunft nehmen können:
Was ist Tanz?
Wie erlangen wir unser Wissen über Tanz?
Ist Tanz überall präsent und verkörpert er jede*n?
Wächst Tanz mit uns von der Kindheit bis heute? Und wie?
Was drückt Tanz aus?